Interview mit Dr. Christian Abegglen
Wer andere Menschen führen und begeistern möchte, sollte vor allem über eine realistische Selbsteinschätzung verfügen. Erst dann kann eine Führungskraft glaubhaft die zahlreichen Rollen ausfüllen, die ihr heute abverlangt werden. Um dabei die richtige Balance zwischen Veränderung und Stabilität zu finden, helfen dogmatische Diskussionen nicht weiter, finden Dr. Christian Abegglen, ehemaliger Geschäftsführender Direktor der St. Galler Business School, und Markus Franz, Leiter der Staufen Akademie.
Eine ganz grundlegende Frage zu Beginn: Was macht eine gute Führungskraft aus?
FRANZ: Sie muss vor allem verschiedene Rollen einnehmen können und situativ führen. Denn mal ist sie als Change Manager gefragt, mal als Mentor und Trainer und manchmal auch als disziplinarischer Vorgesetzter. Wenn dann noch strategische Kompetenzen und die Fähigkeit, Menschen zu inspirieren, hinzukommen, bleiben nicht mehr viele Wünsche offen.
Sie haben den disziplinarischen Vorgesetzten genannt – aber ist das nicht eine Rolle, die in aktuellen Managementmodellen zunehmend verschwindet?
FRANZ: Vielen neuen Ansätzen steht der Praxistest erst noch bevor. Wenn allerdings die Idee zugrunde liegt, Führung quasi ganz abzuschaffen, ist man gegebenenfalls schon auf dem falschen Weg, bevor man richtig losgelaufen ist. Das Ziel moderner Führung ist ja nicht der Aufbau einer hippen Fassade, sondern die Erschaffung eines funktionierenden Rahmens, in dem sich Mitarbeiter entfalten, entwickeln und aktiv einbringen können. Was am Ende zählt, ist sowieso nicht, ob Führung modern oder traditionell ist, allein die Wirksamkeit ist entscheidend.
Ganz unabhängig vom Führungsstil, welche menschlichen Eigenschaften muss man mitbringen?
ABEGGLEN: Eine gute Führungskraft darf für ihre Mitarbeiter kein Rätsel sein, sondern muss eine in sich schlüssige Persönlichkeit sein. Außerdem ist Selbstreflektion statt Selbstbespiegelung angesagt. Denn wer sich schon selbst nicht realistisch einschätzen kann, dem wird das wohl kaum mit seinem Umfeld gelingen. Bei unseren Schulungen beobachten wir oft, dass gerade die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Handelns nicht sehr ausgeprägt ist. Da viele Einstellungen angeboren sind oder sich über viele Jahre verfestigt haben, ist eine Veränderung schwierig und kann immer nur schrittweise erfolgen.
FRANZ: Da stimme ich absolut zu. Eine wirksame Verhaltensänderung ist nur durch kontinuierliche Eigen- und Fremdreflexion zu erreichen. Letzteres kann durch einen Mentor, einen Coach oder auch eine andere Führungskraft erfolgen.
Auch im beruflichen Umfeld sollten
visionäre Ziele verfolgt werden.
Woran liegt es, dass so viele Menschen Führungskräfte werden, denen diese Position nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden ist?
ABEGGLEN: Eigentlich beginnt es schon in der Schule, wo Erfolge oft einer eher trivialen Logik folgen. Auch bei der Entwicklung eines Produkts oder dem Aufstellen eines Marketingplans lassen sich Erfolge recht einfach messen und Fehler beheben. Mit der Führung einer Gruppe dagegen bewegt man sich in einem hochkomplexen System. Menschen sind eben nicht klar zu prognostizieren. Dem Umgang mit solchen hochkomplexen Systemen wird aber viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, von konkretem Training ganz zu schweigen.
Drängen wir aber nicht mit unseren Anreizsystemen Menschen gegen ihre Natur in Führungspositionen, die ja in der Regel deutlich höher vergütet werden?
FRANZ: Eine spannende Frage, die auch aus einem anderen Blickwinkel heraus interessant ist. Denn nicht nur Geld, sondern auch Prestige und Statussymbole haben Führungskräfte über viele Jahre angetrieben. Diese Denkweise wird nun durch die Generationen Y und Z zunehmend hinterfragt. Die Entscheidung, ob man zu Unternehmen A oder B geht, wird immer häufiger davon abhängig gemacht, welche Unternehmenswerte besser zu den eigenen passen und wie man sich selbst verwirklichen kann – geschäftlich wie privat.
ABEGGLEN: Lassen Sie mich Folgendes ergänzen. Auch im beruflichen Umfeld sollten visionäre Ziele verfolgt werden. Gerade die Top-Führungskräfte müssen das Unternehmen zum psychologischen Eigentum der Mitarbeiter machen und Ziele vorleben, für die Menschen brennen.
Von der Vision zurück zum Alltag. Wie sollte das ideale Verhältnis zwischen Mitarbeitern und Führungskräften im normalen Miteinander aussehen?
FRANZ: Normal ist das richtige Stichwort. Führungskräfte sollten sich nicht verbiegen und authentisch bleiben. Gefragt ist ein Klima des offenen Umgangs, der Wertschätzung und des Vertrauens. Kommunikation ist dabei ganz entscheidend: Man sollte sagen, was man tut – aber dann auch tun, was man gesagt hat.
Aber wie realistisch ist es denn, so offen zu kommunizieren? Der Vorgesetzte ist in der Regel ja selbst in Zwänge eingebunden, die es schwierig machen, etwa Fehler einzugestehen.
FRANZ: Das ist ein grundlegendes Problem. Wir müssen von einer Fehlerkultur hin zu einer Lernkultur kommen. Eine lernende Organisation ist nur erreichbar, wenn es „psychologische Sicherheit“ gibt: Das bedeutet, dass gewisse Dinge ausprobiert werden können und es in Ordnung ist, wenn nicht das gewünschte Resultat eintritt. Wichtig ist, daraus zu lernen, entsprechende Verbesserungen umzusetzen, und v. a. auch eine Unternehmenskultur, die dies zulässt. Anders lassen sich keine neuen Wege beschreiten.