Abschied von der Fließbandbehandlung
Mehr Zeit für Patienten, weniger Laufwege – das Spitalzentrum in Biel, das zweitgrößte Krankenhaus im Schweizer Kanton Bern, setzt auf Lean im Krankenhaus.
Änderungen in der Organisation der Pflege können viel bewirken: Im Spitalzentrum Biel in der Schweiz sind die Pflegekräfte seit einiger Zeit in Zweierteams organisiert und jeweils für rund acht Patienten zuständig. Das Ergebnis: weniger Stress, mehr Zeit für die Patienten. „Die klassischen Stationen mit mehr als 30 Betten existieren zwar noch, doch die Arbeit wird nicht mehr wie früher nach dem Fließbandprinzip erledigt“, sagt Christian Baum, Leiter des Projekts „Lean Hospital“ im Spitalzentrum.
Pflege früher: „Planlos“ über die Station hetzen
Die traditionelle Pflegeorganisation ist wenig effizient und für den Patienten oft unpersönlich: Tür auf, eine Pflegekraft verteilt Medizin, Tür zu, Pause, Tür auf, eine andere misst den Blutdruck, Tür zu. Dann arbeitet sich ein Tross aus Pflegekräften und Medizinern von Zimmer zu Zimmer – die Arztvisite. Die Pflegekräfte rennen ihren Aufgaben permanent hinterher und werden zugleich durch Klingeln im Arbeitsfluss unterbrochen. Hektik ist die Folge, und sowohl das Pflegepersonal als auch die Ärzte sind gestresst, denn die Visite verkommt zu einer Fließbandvisite und dauert und dauert, während weitere Termine drängen.
In den Bettenstationen im Spitalzentrum ist das anders, denn es hat seine Abläufe nach Lean Prinzipien umstrukturiert. Jede Station ist in vier Zonen eingeteilt – mehrere Zimmer mit zirka acht Patienten. Je eine diplomierte Pflegekraft und ein Pflegeassistent organisieren die Pflege. Sie eilen nicht mehr von Patient zu Patient, sondern planen die Aufgaben nach dem Pflegebedarf und den Bedürfnissen der Patienten. Diese werden somit stärker als „Kunden“ wahrgenommen und nicht einfach als kranke, hilfsbedürftige Menschen.
Durch die übersichtliche Eingruppierung der Patienten in Zonen sind auch Teambesprechungen deutlich effizienter. Die Einsätze von Ärzten und die Visiten können deutlich besser organisiert werden und die Patientensicherheit wird gesteigert. „Pflegekräfte und Ärzte haben jetzt die Möglichkeit, ihre Aufgaben in Ruhe auszuführen und sich einzelnen Patienten mehr zu widmen“, sagt Christian Baum. Dadurch ist die Pflege aus Patientensicht deutlich persönlicher geworden. Eine Pflegekraft bringt die Medizin, überwacht den Blutdruck und andere Messwerte. Sie organisiert alles rund um den Patienten wie die Essensbestellung und vieles mehr.
Pflege heute: Neu organisiert nach Lean Prinzipien
Wer sich mit Lean auskennt, merkt sofort: Bei den Zonen hat das Prinzip der Gruppenarbeit aus der modernen Lean Produktion Pate gestanden. Hier wie dort gibt es kleine Teams, die für einen abgegrenzten Aufgabenbereich verantwortlich sind und sich im Wesentlichen selbst organisieren. Ein anderes Lean Prinzip lautet: überflüssige Laufwege vermeiden. Dies ist besonders hilfreich auf der Dialyse-Station, in der die Patienten mehrmals pro Woche ambulant behandelt werden.
Zur Dialyse gehört recht viel Material, von Mulltupfern und Pflastern über Kanülen bis zu frisch sterilisierten Schläuchen und Adaptern für die Dialyse-Geräte. „Vorher war es üblich, dass die einzelnen Pflegekräfte kurz vor Eintreffen des Patienten losliefen und alles Notwendige aus einem Lagerraum am anderen Ende des Flurs holten und auf separaten Wagen bereitstellten“, sagt Christian Baum. „Heute werden alle notwendigen Materialien nach Personen getrennt angeliefert. Die Pflegekräfte können sich nun in aller Ruhe den einzelnen Patienten widmen.“
Das Projekt „Lean Hospital“ zeigt deutlich, dass eine effizientere Prozessorganisation – mit Fokus auf Qualität und Prozesssicherheit, wie in der Industrie schon seit Langem üblich – auch im Gesundheitswesen hilfreich ist. „Standardisierte Behandlungspfade mit synchronisierten Prozessen und vorausschauende Planung vom ersten Kontakt mit dem Patienten bis zur Nachversorgung erleichtern die Krankenhausorganisation und die Planung des Personaleinsatzes“, betont Christian Baum. „So sorgt Lean dafür, dass insgesamt weniger Stress entsteht und die Patienten genau das bekommen, was sie zur Genesung brauchen – Ruhe, Aufmerksamkeit und die nötige Information über den Behandlungsablauf.“