Neue Essgewohnheiten, Lebensmittelverschwendung, steigende Co2-Emissionen, internationaler Handel und höhere Rohstoffpreise machen einen Kurswechsel auf dem Food-Sektor notwendig. Doch wo geht die Entwicklung hin?
Dr. Björn P. Moller vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Dr.-Ing. Simon Berner, Professor an der FH Joanneum in Graz, und Axel Davila Lage, Branchenmanager Food & Beverage Staufen AG, setzten sich an einen virtuellen runden Tisch und sprachen über …
… nachhaltige Zukunftsszenarien
Im Rahmen des von der EU geförderten Fox-Projekts hat das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe „Three scenarios for Europe’s food sector in 2035“ herausgebracht. Wie sieht danach die Zukunft im Lebensmittelbereich aus?
Moller: Auf der Basis von künftig stärker werdenden Trends haben wir drei unterschiedliche Zukunftsbilder gezeichnet. Sie unterscheiden sich darin, wer den Wandel zu mehr Nachhaltigkeit antreibt. Im ersten Szenario ist es die Politik. Sie gibt Regularien vor, die von allen akzeptiert werden. Im zweiten Szenario treibt die Gesellschaft mit ihrer Motivation zu einem gesunden, grünen Lebensstil die Entwicklung. Im dritten Szenario sind es Produktion und Handel. Die landwirtschaftliche Produktion ist wirtschaftlich und erfolgreich, es gibt einen Datenaustausch zwischen den Akteuren, wobei der Einzelhandel die Datenmacht hat und den Lebensmittelsektor steuert. Die Wahrheit wird wahrscheinlich irgendwo zwischen diesen Szenarien liegen.
… kürzere Lebensmittelketten
Wie wichtig werden eine dezentrale Produktion und kürzere Transportwege künftig im Lebensmittelbereich?
Berner: Das Lebensmittelsystem, so wie es heute existiert, wird irgendwann an seine Grenzen stoßen. Verkürzte Lebensmittelketten werden Resilienz bieten und können ökonomische Vorteile für die Teilnehmer bringen. Aber der Trend zu mehr Regionalität entwickelt sich von Land zu Land unterschiedlich. In Österreich war regional schon in den vergangenen Jahren wichtiger als Bio, weil die Kunden regionale Produkte nachgefragt haben. In Deutschland war Bio immer wichtiger, jetzt könnte das kippen.
Moller: Man kann im Lebensmittelbereich nicht pauschal sagen, alle Lebensmittel müssen lokal gehandelt werden. Das ist abhängig vom jeweiligen Produkt, ein Beispiel ist der Wein. Aber als Verbraucher fragt man sich natürlich schon, warum Produkte, die vor der Haustür wachsen, 5.000 Kilometer durch die Welt gefahren werden.
Davila Lage: Dezentralisierung wird zukünftig eine noch größere
Rolle spielen. Alleine durch die Variantenvielfalt stoßen Großanlagen
bereits heute an ihre Grenzen. Es gibt auch in Deutschland
erste Beispiele für eine Dezentralisierung. Mit der Listung lokaler
Bäcker im Einzelhandel oder Soja aus Deutschland für fleisch –
freie Produkte wird die Produktion bereits heute dichter an den
Kunden gebracht.
… die Preise für Lebensmittel
Was bringen lokale Lebensmittelkreisläufe dem Kunden?
Berner: Wenn wir die Lebensmittelketten verkürzen, würden viele kleine, dezentral produzierende Anbieter in das System genommen. Von den Erzeugern bis zu den Kunden haben viele die Möglichkeit, davon zu profitieren. Aber es bedeutet auch, dass es eine Umstrukturierung im Lebensmittelsystem geben würde. Der Lebensmittel-Einzelhandel müsste sich so organisieren, dass regionale Produkte und kleine Produzenten gelistet werden. Das bedeutet oft höhere Preise. Wenn der Preis am Ende durch ein Verkaufsargument wie Regionalität an den Kunden weitergebeben wird, wäre das ideal, und alle hätten etwas gewonnen.
Moller: Es ist bei dieser Diskussion natürlich immer die Frage, wer die Preise zahlt und wer bereit ist, mehr zu investieren. Der Handel kann immer sagen, wir bieten Bio- oder regionale oder nachhaltig produzierte Produkte an, aber wenn der Konsument das nicht wertschätzt und zahlt, ist die Industrie gezwungen, wieder günstig zu produzieren. Aber das ist natürlich sehr plakativ. Auch in anderen Projekten, die wir zu diesen Themen durchführen, wird die Frage diskutiert, wo eigentlich entschieden werden soll, was die Deutschen essen: an der Ladentheke oder im Parlament? Wenn man das nur dem Verbraucher überlässt, ist es immer einfach, die Diskussion zu beenden und zu sagen, wenn keine Nachfrage da ist, ist es zu teuer.
Davila Lage: Wenn wir über den Preis reden, haben wir noch sehr viel Effizienzhebel im System. Ein gutes Vorbild ist hier ein Beispiel aus der Automobilbranche. Toyota hat es geschafft, Wertstromverluste wie Transport und Überproduktion drastisch zu reduzieren, und hat so den Wertschöpfungsanteil deutlich gesteigert. Dies ermöglicht es, bei gleichbleibendem Preis den Kundennutzen zu steigern. Wenn im „Farm to Fork“-Prozess ebenfalls die Verschwendung aus dem Prozess rausgenommen würde, brächte dies eine deutliche Kostenersparnis. Die Preissensibilität des Kunden könnte abgefedert werden.
… eine CO2-Steuer
Was würde eine CO2-Steuer auf Wurst und Fleisch bedeuten?
Davila Lage: Das gäbe einen Aufschrei. Wenn die Schweinemast mit CO2-Zertifikaten belegt wird, dann wird es sich nicht mehr rechnen.
Moller: Dann wird die Tierhaltung größtenteils aus Deutschland und Europa abwandern. Es wird keine Mastbetriebe mehr geben. Der Konsument kann dann wählen zwischen importiertem Fleisch aus China und dem Verzicht auf Fleischkonsum.
Berner: Man könnte den gesamten Fußabdruck einpreisen, aber wenn wir das Fleisch so teuer machen, wie es sein müsste, dann hat sich das Grillen, wie es heute gelebt wird, erledigt. Wenn sich viele Menschen das nicht mehr leisten können, kommen wir an eine Systemgrenze und das hat auch eine starke gesellschaftliche Komponente.
… neue Forschungsprojekte
Die FH JOANNEUM Graz und das Fraunhofer ISI nehmen neben anderen am EU-Projekt Fairchain teil. Worum geht es in diesem Projekt?
Berner: Es ist ein komplexes Forschungsprojekt mit etlichen Partnern in Europa, bei dem man versucht, verkürzte Lebensmittelketten zu etablieren und die Akteure zu unterstützen, damit es funktioniert. Bei der Fallstudie in Österreich arbeiten wir mit landwirtschaftlichen Betrieben aus dem Obst- und Gemüseanbau zusammen. In einem sogenannten Food-Innovation-Incubator sollen neue Produkte, Prozesse und Geschäftsmöglichkeiten entwickelt werden mit dem Ziel, bis 2030 ein Lebensmittel-Nahversorgungssystem im Umkreis von 30 Kilometern zu etablieren.
Moller: Das Fraunhofer ISI begleitet die einzelnen Fallstudien und entwickelt hierfür Workshops, wie man die zukünftigen Nutzer frühzeitig einbinden kann. Die Themen, aber auch die Reifegrade der einzelnen Fallstudien sind hierbei sehr unterschiedlich. In Griechenland sollen etwa Schlüsselinformationen aus einer lokalen Käse- und Joghurtproduktion in einer Blockchain-Infrastruktur gespeichert werden, um interessierten Parteien auf vertrauenswürdige Weise Zugang zu gewähren.
… eine Aufbruchstimmung im Lebensmittelsektor
… eine Aufbruchstimmung im Lebensmittelsektor
Wie bringt man die Akteure im Lebensmittelsektor dazu, über ihren Schatten zu springen und sich am Umbruch zu beteiligen?
Berner: Eine Anschubförderung der Landwirtschaft wie beim Projekt Fairchain ist oft eine Initialzündung, um den Prozess zu optimieren. Wenn man ihnen zusätzlich ein Geschäftsmodell anbietet, etwa eine App, mit der sie ihre Produkte direkt verkaufen können, wird das Risiko für sie noch kleiner.
Davila Lage: Es gibt junge Bauern und Bäuerinnen, die was Neues wagen, tolle Start-ups, aber die Lebensmittelindustrie ist mehrheitlich noch sehr konservativ. Wir bekommen den Umbruch nur hin, wenn die Teilnehmenden gewillt sind, mal in andere Industrien reinzuschauen und zu gucken, wie die es geschafft haben. Es gibt bereits heute Beispiele, wie das gut gelingen kann. Jan Bredack war Daimler-Manager, bevor er Veganz gründete. Hier gelangen Sie zum Interview.
Moller: Das ist die große Herausforderung im Lebensmittelbereich. Alle Akteure müssen sich gleichzeitig bewegen: Die Politik muss zum Beispiel das Labeling verbessern. Der Einzelhandel muss ins Gespräch gehen. Aber auch die Kundschaft muss sich ändern und bereit sein, mehr zu zahlen, dann ziehen Produktion und Handel nach.
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